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Die Freude des kleinen Jungen

800 Platten zum Aussuchen für einen Euro das Stück. Wenn mehr, dann billiger.
Ich fahre also nach Wuppertal.
Das ist eine verwahrloste Stadt, zumindest in großen Teilen. Man kann die Armut förmlich riechen, es ist einer dieser Stadtteile mit eigentlich schönen Gründerzeitbauten. Teilweise noch die Außenmauerkamine der Kohleöfen, viele einfach verglaste Holzfenster. Ungepflegte Vorgärten. Das Grün einer anderen Zeit.
 
Biege ein in die kleine Straße. Ein Junge, vielleicht zehn oder zwölf, steht vor einem schief aus den Angeln gebrochenen, rostigen schmiedeeisernen Einfahrtstor. Eines von diesen schönen Sachen aus der Zeit, wo es echtes Handwerk gab, die einfach nie mehr wiederkommen werden. Müsste mal aufgearbeitet werden, denke ich, während der Junge mich intensiv anblickt, als ich vorbeifahre.
Tatsächlich, das ist das Haus, wenden, ein Parkplatz direkt davor auf dieser beengten Nebenstraße. Wie praktisch.
Ja, sagt er, er sei das mit den Platten, etwas schüchtern. Und mir gleich unglaublich sympathisch, warum weiß ich eigentlich nicht. Nett. Normal, also so, wie ich Kinder von früher her kenne, unprätentiös, unmittelbar.
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Oben im zweiten Stock am Fenster seine Mutter, sie komme gleich runter. Das ist die mit der ich kommuniziert habe auf die Anzeige ohne Bild „Bitte Schalplatten zu verkaufen“.
Der Junge scharrt förmlich mit den Füßen und blickt mich an wie das achte Weltwunder.
Wir gehen durch den Garten, um den sich offensichtlich niemand kümmert, vorbei an durchgesessenen Korbstühlen zum Hintereingang, durch die zu erwartende alte Holztür, deren asphaltgrauer Lack auch schon bessere Tage gesehen hat, hinein in einen muffigen Backsteinkeller. Ob er sich damit ein Taschengeld verdiene, frage ich den Jungen. Der plappert raus, ja, ein Nachbar, der sei schon alt und jetzt pflegebedürftig (das Wort scheint lang für ihn und kommt ihm etwas holprig über die Lippen), habe ihm die geschenkt.
Während ich die Platten durchschaue, Oper, Operette, Klassik, Schlager, plaudern wir ein wenig weiter. Aha, auf der Sonderschule. Oder auf der Förderschule. Wie immer das jetzt politisch korrekt heißen mag. Ich denke, mit dem richtigen Umfeld wärst Du da nicht, die Mutter kommt, eine kleine Frau, die offenbar viel und hart gearbeitet hat, mit selbst blondierten Strähnchen, die an den Ansätzen schon länger mal hätten nachgefärbt werden müssen. Sie bringt den kleineren Bruder mit und erzählt mir nochmal vom pflegebedürftigen Nachbarn. Sie unterstreicht das Wort förmlich beim Sprechen.
 
Ich finde eigentlich nichts in diesem zugestaubten Haufen, nehme aber etwas über zwanzig Platten raus mit in den Garten in die Sonne und auf den morschen Korbstuhl. Wobei ich mich sehr vorsichtig setze, vielleicht bin ich der erste dieses Jahr, und vielleicht der letzte für immer. Zwei, drei Scheiben muss ich aussortieren, die sind mir zu verkratzt, der Rest, alles so drei Euro Dinger, wenn überhaupt, aber vom Zustand her gut. Ich erzähle dem Jungen von meiner Faszination, dass da die Musik in den Rillen irgendwie drin ist, und ich das aber gar nicht verstehe, wie das eigentlich geht. Dann zeige ihm den Unterschied von einer Maxi zu einer LP. Also wie man an den Rillen sehen kann, dass auf der LP mehrere Lieder drauf sind und bei der Maxi aber eben nur eines. Als ich erkläre, dass die Maxi schneller dreht und deswegen weniger drauf ist aber die Musik besser klingt, sagt er gleich, dass sei klar, weil dann da ja mehr Platz sei für die Musik. 
Sonderschule? Scheiße.
 
Zwanzig will ich mitnehmen, auch bei 50ct die Platte kommen da sowieso ja nichtmal die Fahrtkosten bei raus, aber das ist ja Teil des Hobbies, bei dem es nicht um’s Geld, sondern um Kontakt und Kulturerhalt geht. 
Das kann ich mittlerweile recht sicher so formulieren.
Er will mir die Aussortierten nochmal zustecken, der Kleine rechnet offenbar in Cent. Ich zeige ihm die dicken Kratzer und erkläre dass dann die Nadel springt, er hört mir wieder aufmerksam zu. So jemand braucht keine Schule, der braucht individuelle Förderung. Und da wird dann auch was draus, denke ich, vor allem ein Mensch. Am liebsten würde ich den mitnehmen.
Ob er mit dreißig Euro für die zwanzig Platten einverstanden ist?
Er braucht einen Moment. Ich sehe, wie er überrascht rechnet, und glaube nicht, dass er das gut hinbekommen hat. Aber einen Moment später versteht er, dass das viel mehr ist, als womit er gerechnet hat, das, wie soll ich es denn sagen, engelsseelige Grinsen auf seinem Gesicht und die leuchtenden Augen, die sich wahrscheinlich Eiscremeberge vorstellen, verraten mir das.
Ich zahle, nehme die Platten mit und lasse den Jungen da. Das war ein gutes Geschäft.
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Record Player Needle

vinylfreak

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