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vinylfreak

TON STEINE SCHERBEN "KEINE MACHT FÜR NIEMAND"

Updated: Dec 16, 2023


Ich hab' geträumt

Der Krieg wär' vorbei ...

... Das war

Das Paradies!


... der Traum ist aus

Aber ich werde alles geben

Dass er Wirklichkeit wird!



Plattencover Ton Steine Scherben Keine Macht für Niemand

Ich muss so etwa dreizehn gewesen sein, kurz vor meinem ersten Ostermarsch in Berlin, als mich die Platte in Form einer kopierten Kassette wortwörtlich erreichte.


Ich halte Ihnen mal lieber keinen Vortrag über die Texte und erst recht nicht über Politik, aber hier sprach eine ganz andere Stimme als das, was ich bis dahin an Protestsängern kannte:



Während Lindenberg zynisch das "Grande Finale" ausrief und Georg Danzer den Automatismus erklärte, dass "je enger das Korsett wird, in das der Staat uns zwängt, umso stärker wird der Druck, der es schließlich wieder sprengt", beides Botschaften ohne Hoffnung, die eine eben zynisch, die andere Büllerbü-Idealismus, sprach hier jemand eine Hoffnung an, die einen Hall erzeugte:

Wenn wir uns zusammentun und etwas tun, dann können wir auch etwas ändern.


Diesen jemand konnte ich singen hören, aber ich kannte ihn nicht, es gab nichtmal ein Bild auf der Platte wie sonst, aber er sprach einfach unmittelbar und direkt zu mir:


Wer wird die neue Welt bau'n, wenn nicht Du und ich?

Und wenn Du mich jetzt versteh'n willst, dann verstehst Du mich.


Ich muss den Text tatsächlich nicht googeln. Ich kann das heute noch auswendig, so tief hat sich das eingebrannt. Und ich bekomme noch immer feuchte Augen, recht untypisch für mich.


Heute weiß ich freilich mehr.

Natürlich über die Welt, aber vor allem auch von dem, worum es auf diesen Seiten ja gehen soll, über die Audiophilie, Aufnahmetechnik, Abmischung und das Abspielen.

Und das ist die Stelle, wo diese Platte so richtig interessant wird, weil hier, eher unbeabsichtigt wohl, Form und Inhalt unmittelbar zusammenpassen. Weswegen ich die also auch als Konzeptplatte getaggt habe, das politische Konzept ist hier nämlich untrennbar verwoben mit dem Klang.


Dazu muss man wissen, dass der gute Rio Reiser die Platte zunächst im Eigenverlag bzw. auf eigene Kosten herausgebracht hat.

Kein Label wollte das produzieren, zu heiß. Und zu unwahrscheinlich, dass es jemand kauft.

1972 war der gute Rio inhaltlich seiner Zeit einfach meilenweit voraus. Da kifften ja die Hippies in ihren Kommunen noch nackt im Bett um die Wette und für den Frieden, um bis zu dem gelobten Tag der irgendwie eigentlich automatisch eintretenden Bewusstseinsrevolution durchhalten zu können, und eine breitere Protestbewegung hatte sich noch gar nicht formiert.

Die Platte wurde also mit wenig Zeit und noch weniger Geld offenbar in einem Rutsch aufgenommen, direct to disc sozusagen. Diese Unmittelbarkeit, einschließlich, dass er sich mal versingt und sogar einmal den Einsatz verpasst, das kannte ich nicht, und es gibt natürlich auch eher wenig davon.

Gleichzeitig hat die Aufnahme einen einmaligen warmen Klang. Das ist einfach irgendwie richtig gut abgenommen. Weshalb ich die auch als audiophil getaggt habe, auch wenn sie das natürlich nur im erweiterten Sinne ist. Die Hörfreude ist hier weder eine üppige Instrumentalisierung noch die Abnahmetechnik noch die Abmischung, sie besteht hauptsächlich in dem historischen und nahezu einmaligen Klangbild.


Und das also, die Kombination von Texten mit einem ungewohnten Dreh mit einer unverbrämten Echtheit, das sprach zu mir. Das schien wie extra für mich in irgendeiner Garage aufgenommen von den Leuten, mit denen ich so gern etwas zu tun gehabt hätte und die es also irgendwo jenseits der Stadtgrenze dieser miefigen Kleinstadt ja geben musste.


Als der gute Rio dann endgültig pleite war, verkaufte er die Rechte an eines der großen Labels, die Platte wurde wieder aufgelegt und ein bescheidener Erfolg. Nicht für Rio freilich. Womit die Mär widerlegt sei, die Scherben seien vom "Osten" finanziert gewesen.

Was übrigens schon deshalb gar nicht möglich gewesen wäre, weil es sich unverkennbar um links-anarchistische Texte handelt, das mochten die Kader-Genossen mindestens so wenig wie den Faschismus.


Und dann wollte ich mir die also nachkaufen, aber die war mir als rein nostalgisches Objekt dann doch zu teuer. Aber, ah, es gibt eine Neupressung!

Her damit, dachte ich mit dem Leichtsinn des Greenhorns, der noch glaubte, Vinyl lasse sich einfach mal eben so reproduzieren.

Sprichwörtlich die Rechnung ohne den Wirt, was hier ankam war schlichtweg so enttäuschend, dass ich zuerst geglaubt habe, die Erinnerung sei wirklich nichts als eine Verklärung (weitestgehend) unschuldiger Jugend.

Ich wusste da noch nicht, dass bei Tonträgern schon fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod des Urhebers der Schutz erlischt. Und auch nicht, dass es also Kopierhaie gibt, denen völlig schnuppe ist, was sie in welcher Qualität auf Vinyl pressen.


Was hier dann aus den Boxen kam, es war so erschreckend ernüchternd, ich zweifelte glatt daran, dass ich doch angeblich schon "immer" ein Feinhörer gewesen sei. Das ist ja letztendlich nur mittelmäßiges Geschrabbel mit halbwegs ambitionierten Texten für Teenager und ewig Naive.

Und weil ich aber das nicht wahrhaben wollte, habe ich mir dann also diese Pressung hier besorgt. Und bin rehabilitiert, diese Aufnahme hat einen ganz wunderbaren Klang, der eine unmittelbare Nähe erzeugt.

Und deswegen ist die Platte hier also auch getaggt als Lieblingsplatte. Nicht musikalisch, nicht textlich, sondern als ein historisches Gesamtkonzept, das auch mit mir verwoben ist. Wenn Sie so wollen, das ist meine persönlichste Empfehlung.

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